Hört doch endlich auf mit dem Silvester-Quatsch!

Silvester ist gruselig! Überhöhte Erwartungen, überteuerte Veranstaltungen und Lebensgefahr durch Raketen: Ich feier‘ das ganze Jahr über, aber am 31.12. liege ich traditionell auf Baldrian und mit Kopfhörern im Bett. Warum ihre eure „FOMO“ an diesem einen Abend im Jahr überwinden solltet.

Silvester, kurz vor 12 Uhr, immer dasselbe: Du versuchst innerhalb eines Zehn-Sekunden-Countdowns die komplexen Gefühle von einem Jahr zu reflektieren, die Ziele und Wünsche für das nächste zu fokussieren, dein Essen trotz drei Flaschen Sekt bei dir zu halten und keine Panikattacke zu kriegen, während es Feuer vom Himmel regnet, Raketen kreuz und quer durch die Gegend schießen und sich alle mit einem diabolischen Lachen in die Arme fallen.

Während sich dieses Spektakel zeitversetzt auf der ganzen Welt abspielt, liege ich auf Baldrian im Bett und trinke Tee. Wer den „Feiern-für-Anfänger“-Text gelesen hat, kann sich denken, dass ich normalerweise keine gute Party auslasse. Aber Silvester verrät einfach alles, was eine gute Party ausmacht. Es bietet weder Platz für Spontaneität noch Überraschungsmomente und setzt alle Anwesenden unter einen unnatürlichen Gute-Laune-Zwang, der jede ehrliche Euphorie im Keim erstickt. Es ist durchgeplant wie eine Sitzung im Bundestag, teurer als das Oktoberfest und ungefähr so erfolgsversprechend, wie eine Bio-Gans am Heiligabend im Prenzlauer Berg aufzutreiben.

Die Diktatur der guten Laune ist ein Garant für schlechte Laune

An Silvester schicken wir unsere Gefühle auf den Strich, wobei wir Freier und Hure gleichzeitig sind. Wir haben sehr große und sehr genaue Erwartungen, haben alles von Anfang bis Ende durchgeplant und bringen viel zu viel Geld in Umlauf, um einen Zustand zu erreichen, den man im Idealfall umsonst bekommen sollte. Gleichzeitig zeigen wir auf Knopfdruck Gefühle, auch wenn uns nicht danach ist und unsere Chance auf den Höhepunkt ist in etwa so wahrscheinlich, wie sich in den nächsten Freier zu verlieben. Oder, um es mit einer unschuldigeren Sex-Metapher zu erklären: An Neujahr werden wir alle zu dem pubertären Jungen, der endlich seine große Liebe ins Bett bekommt, und bei dem dann gar nichts mehr geht. Es ist, als würde uns diese Nacht ins Ohr flüstern „Das ist deine Chance, versau es jetzt bloß nicht!“.

Na klar, man könnte auch einfach ohne Erwartungen an Silvester rangehen. Das ist allerdings schwierig, wenn es der einzige Termin ist, an dem auch die Freunde aus ihren heimeligen Löchern kriechen, die man den Rest des Jahres nicht von der Couch bekommt. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die sich extra dieses leidige Datum für ihr jährliches Feiererlebnis aussuchen, um darin bestätigt zu werden, dass ihnen die Feierei keinen Spaß mehr macht. Seht es ein: Menschen haben im Gegensatz zu Knallern und Böllern eben keine Lunte, die man bei Bedarf zünden kann, damit alles vor Freude explodiert.

Irgendjemand fehlt immer

Geht euch alles nichts an, ihr sitzt sowieso nur im kleinen Kreis zusammen? Selbst wenn ihr zur Käsefondue-Fraktion gehört, seid ihr nicht auf der sicheren Seite. Weil wir uns alle in verschiedenen Freundeskreisen bewegen und es eben nicht nur eine Homeparty gibt, ergeben sich in den kleinen Runden zu Silvester die merkwürdigsten Gäste-Konstellationen aus Bekannten, besten Freunden und Fremden, die sich das Bleigieß-Besteck teilen. Gleichzeitig fehlen garantiert ein paar Lieblingsmenschen, die sich für eine andere Party entschieden haben, was unter Umständen sogar im nächsten Jahr noch für schlechte Laune sorgen kann. Letztendlich wird jeder Videoabend im vergangenen Jahr entspannter und lustiger gewesen sein.

Alternativen: Nicht-, Prä- und Post-Silvester (oder alle drei!)

Aber es geht auch anders, Stichwort Antiparty. Von Jahr zu Jahr schließen sich immer mehr Freunde meiner Nicht-Silvester-Aktion an. Da muss man schon aufpassen, dass es keine Party wird. Deshalb: kein Alkohol, kein Countdown, stattdessen wird geschlafen, schriftlich reflektiert, ein Hörspiel gehört. Oder sogar gearbeitet, was übrigens auch ein ziemlich erhabenes Gefühl ist, wenn die ganze Stadt gerade Kopf steht.

Während man in anderen Städten eventuell wirklich ein gutes Lineup oder eine wilde Nacht verpasst, ist die „FOMO“ in der Hauptstadt ja auch völlig unnötig. Hier wird sowieso immer gefeiert. So stellte es sich schon mehrfach als gute Idee heraus, einfach in der Prä-Silvester-Nacht am 30.12. wegzugehen. Dann verschläft man das leidige Silvester dank Kater ganz automatisch und ist am Neujahrstag der einzig fitte Mensch in dieser Stadt.

Außerdem gehen die Partys hier mitunter eine knappe Woche, man kann also vollkommen entspannt die Feierei in viel lockerer Atmosphäre am 2. Januar nachholen. Um es mit einem Zitat aus der Serie Good Girls Revolt zu sagen: „Ich geh morgen trinken, wenn die Konkurrenz nicht so groß ist.“

Dieser Text ist zuerst auf Mit Vergnügen Berlin erschienen.

Text: Antonie Hänel

Fotos: Maximiliane Wittek

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